«Bloody hell trip»

Gemeinsam stossen wir in Den Helder die «Tres Hombres» von der Pier zum Steg, von dem aus wir leichter starten können.

Dieppe, 25. November 2022: Das Ölzeug stinkt nach jenen Weichmachern, von denen es uns Kindern schon in den Sechzigerjahren im Auto immer schlecht wurde. Das Hauptmaterial ist PVC, P wie Pfui, C wie Chlor. Ich verkaufe diesen verdammten (das ist das V im PVC) Plastik, mit dem wir den Planeten zumüllen, und bin sogar froh, ja fast stolz darüber. Den soo frieren will ich nicht nochmal!
Das Ablegen in Den Helder erfolgte bei Wind aus einer östlichen Richtung. Wir setzten ein Segel nach dem anderen, problemlos ging es in Richtung Ärmelkanal. Nach einem Sturzregen hatte ich schon das Gefühl, dass da nicht nur in die Ärmel gelaufenes Wasser die Kleider darunter durchfeuchtet. Am Montag tauchten die fünf roten Lichter von Dover auf. Mit wenig Wind schlichen wir bei Dunkelheit unter Vollzeug zwischen dem Fahrwasser für die grossen Schiffe in Richtung Westen und dem Ufer durch die Mehrenge. Dann frischte es auf. In der Koje liegend notierte ich Windstärke 5, da fühlt sich unser Schiff wohl.
Doch als ich für die Wache an Decke komme, sieht die Welt ganz anders aus: Das Grosssegel voll gerefft, nur noch Mars- und Vorstagsegel. Das Gross-Stagsegel wird soeben von der vorangehenden Wache geborgen. Im Fockmast kämpfen zwei, um das neue Bramsegel und das Royal sturmfest zu zurren. Der Binnenklüver und der «Bob» (so nennen wir das mittlere Stagsegel zwischen den Masten, das korrekt bezeichnet einen zu umständlichen Namen hat) sind zwar heruntergeholt, doch nicht festgezurrt. Da war zu viel in zu kurzer Zeit zu tun. Niemand wird dafür auf den Bugspriet und in den Fockmast geschickt, dafür ist der Wetter schon zu hart. Wind und die sich zunehmend aufbauenden Wellen lassen das Schiff so krängen, dass zeitweilig nicht nur unter dem Schanzkleid, sondern auch darüber Wasser aufs Deck im Lee schiesst. Die Wellenkämme hinterlassen Schaum, beginnen später zu brechen, vereinzelt reisst der Wind später Gischt von den Schaumkronen. Windstärke 8. Der Sturm und das Schlagen der heruntergeholten, aber noch nicht festgezeisten Segel machten einen betäubenden Krach. Der Rumpf unserer wackeren Dame bäumt sich auf, kracht in die nächste Welle, zittert unter den Schlägen. Die «Tres Hombres» kämpft, kämpft gegen den Wind und die Seen aus West, ausgerechnet aus der Richtung, wo wir hin müssen. Bei einer grossen Welle kommen an Backbord die an Deck gelaschten schweren Reservehölzer und Spieren mit einem Knall frei. Sie werden an neuer Stelle vertäut, die Füsse müssen sich vor allem im Dunkeln an neue Hindernisse gewöhnen.

Segel bergen bei aufziehendem Sturm

Zwar habe ich in meiner Jugend auf dem Bielersee auch Sturm erlebt, einmal sogar mehr als das, was wir jetzt im Ärmelkanal haben. Aber da legte sich der Wind nach kurzer Zeit, zudem war Sommer. Nicht so hier. Was am Montag begann, endet Donnerstag Nacht erst gegen Morgen. Zwar flaute der Wind zeitweilig auf eine gemütliche Stärke ab, drehte manchmal ein bisschen. Dann aber kommt die nächste schwarze Wolke mit Regenböen, teilweise Blitzen, der Donner vom Wind verschluckt. Da dreht sich der Kopf schnell ins Lee, denn jeder Tropf fühlt sich an wie ein Nadelstich. Unsere Kapitänin Anne-Flore am Ruder verströmt Sicherheit, lächelt zwischendurch wohl dem einen oder der anderen die aufkeimenden Befürchtungen weg. Erst im Hafen spricht sie dann von einem «bloody hell trip», einer «verdammten Höllenreise». In so einer Situation muss der Kapitän selbst mit der Mimik auch ein bisschen Sozialarbeiter sein – oder eben eine starke Frau. Bei den Manövern funktionierten wir für die kurze Zeit, die wir zusammen verbracht haben, überraschend gut. An den Wind und die ständige Krängung gewöhnt man sich. Ab und zu ein Daumen nach oben: «Ja, es geht noch».
Bei mir allerdings gings dann irgendwann nicht mehr. Die Segelkleider, atmungsaktiv mit ein paar tausend Millimeter Wassersäule, versagten ihren Dienst. Als eine Welle von der Luvseite aufs Deck schoss, mich von den Füssen riss und Eilish, die am Ruder stand, ans Lee-Schanzkleid spülte, spätestens da war es vorbei mit «wasserdicht». Ich war nass bis auf die Haut. Mit jeder Wache nahm der Vorrat trockener Reserveklamotten ab. Bei diesem Wind fühlen sich 10 Grad an wie irgendetwas unter Null. Nach zwei Wachen Schlottern und Zähneklappern liess ich mich von einer Hundewache (0 bis 4 Uhr) dispensieren – das erste Mal, seit ich vor drei Jahren erstmals an Bord der «Tres Hombres» ging.
Dazu die Seekrankheit. Bei weitem nicht nur bei mir. Gegen Ende der Fahrt wurden dann Aussagen wie «heute habe das erste Mal wieder eine Scheibe Knäckebrot gegessen» mit heiterem Applaus quittiert. Auf Freiwache in der Koje – im Liegen geht die Übelkeit weg – habe ich versucht, mit Datteln und Feigen die Energie aufrecht zu erhalten oder mit Brausetabletten Mineralien und Vitamine einzuwerfen. Dann schmeckte das nächste Würgen im Lee eben nach Datteln, Feigen oder Brausetabletten – zwar nicht gerade ein Höhepunkt der Reise, aber kein Vergleich zur Kälte.
Bis ich dann endlich um ein Reserve-Ölzeug an Bord bat. Dick, steif, innen permanent kondenswassernass, gemacht für Fischer, See-Profis. Ab da war die Welt wieder in Ordnung, selbst die Seekrankheit nahm ab. Die letzten nur feuchten, aber wenigstens nicht ganz nassen Kleider wärmten unter dem PVC-Panzer immerhin für die ersten zwei Drittel der Wachen. Meine Segelkleider nennen sich hochtrabend «Marine Pool, Spirit of the Ocean». Gehalten haben sie nur eine einzige Reise mit der «Tres Hombres», und da waren sie höchstens drei Monate im Einsatz. Die billigen, isolierten Arbeiterstiefel aus Polen haben dagegen auf dieser Reise die ganze Zeit die Füsse warmgehalten. Zudem schwellen die Hände bei der Arbeit an Schoten und Brassen auf: Ich hatte zwar die grösste Grösse gekauft, aber auf See waren die angeblichen Ozeanhandschuhe für 40 Franken wertlos, ich brachte die dauernassen Hände nicht mehr hinein. Drum besorge ich ich mir jetzt im Fischereihafen von Dieppe Ölzeug, stinkenden Plastik. Und für fünf und acht Euro Fischerhandschuhe in Übergrösse.

Ausweichhafen Dieppe
Dieppe, nicht Douarnenez. Die Stadt an der französischen Nordküste wurde zum Ausweichhafen. Wir mussten auf See bleiben, bis der Wind abflaute. Segelten auf und ab, machten Seemeile um Seemeile ohne dem Ziel näher zu kommen. Auch das eine Folge des politisch motivierten Transports ohne Motor: Schlepphilfe fürs Einlaufen in den Hafen ist für die «Tres Hombres» nur bei wenig Seegang möglich. Während der Hundewache hegte ich selbst in der Nacht auf Donnerstag noch Zweifel, ob der Wind die Prognose verstanden hatte, dass er nach Mitternacht abflauen soll. Wieder legt er die «Tres Hombres» auf die Seite, bis im Lee der Schaum über das Schanzkleid schwappt. Nimmt das denn nie ein Ende?!?
Doch. Bei Tageslicht können wir wieder mehr Segel setzen – auch das Mars hat mittlerweile eine lange aufgerissene Naht – und Kurs in Richtung Hafen nehmen. Ein grosser Schlepper kommt uns entgegen. Schwarz faucht es aus dem Auspuff, aber in so einem Augenblick ist das zweitrangig.

Das erste Bedürfnis im Hafen: Das nasse Zeug trocknen

Mayonnaise happens!
Hier werden wir nun einige Tage bleiben. Flicken, was kaputt ging. Den Aussenklüver hat es total aus den Stagreitern gerissen, den Bob regelrecht zerfetzt. Auch das Mars ist bereits für die lange Naht heruntergeholt. Die drei Segel gehen direkt zum Segelmacher.
Als wir vor dem Einlaufen die rostige Ankerkette hochholten – der Anker muss in Ufernähe immer als Notbremse bereit sein – war sie voll mit Mayonnaise. Nicht nur im Rigg, auch im «dry store», dem Lagerraum für unsere Lebensmittel – ist vieles durcheinander geflogen. «Mayonnaise happens» ist nun wohl der Kalauer dieser Reise. Sanny ist seit Stunden am Putzen. Und im Bootsmanns-Kämmerchen hinter der Galley liegen die in Den Helder säuberlich in eine Werkzeugkiste sortierten Schraubenschlüssel und sonstige Werkzeuge durcheinander wie die entwurzelten Bäume in den Schweizer Wäldern nach dem Wintersturm Lothar.
Nach dem vielstimmigen Jubelschrei, als wir im Industriehafen von Dieppe endlich vertäut am Pier liegen, folgen die Spaghetti unseres sizilianischen Kochs Frederico. Göttlich! Nach Entbehrung wird eine Alltagsspeise zum Bankett. Während halb Europa mit Black Fridays im Vorweihnachts-Konsumrausch taumelt, und sie irgendwo für Milliarden Dollar in der Hitze Fussball-WM spielen, kämpfen wir zwar gegen gegen Kälte und Wellen und hoffen nun hier im Hafen auf Wind aus der richtigen Richtung. Aber eigentlich kämpfen wir gegen den Transportwahnsinn des überdrehten Welthandels. Ohne diese Mission wäre das alles nur ein Abenteuerurlaub. Doch in der Praxis drehen sich auf Freiwache die Gedanken darum, ob man sich die zweitletzten trockenen Socken schon für die nächste Wache oder erst die folgende gönnen soll.
Von hier wird es nun nach den Reparaturen direkt auf die Kanaren gehen, sobald alles repariert ist und sich der Wind etwas freundlicher zeigt. Die für Douarnenez und Baiona geplante Fracht wird hierher nach Dieppe umgeleitet. Schade! Gerne hätte ich in Douarnenez Guillaume persönlich kennen gelernt, der mit TOWT (Trans Ocean Wind Transport) einen modernen Segelfrachter plant. Hier im Hafen sind wir auf die «Gallant» getroffen, den Schoner, der unter anderem für Atinkana in Zürich den Kaffee aus Kolumbien nach Europa segelt.

Übung mit Überlebensanzug und Rettungsweste

Sympathie für die «Tres Hombres»
Dieppe, 27. November 2022: Sonntag, Regen, 7 Grad, frei. Die Arbeiten kommen voran. Wobei das Reinigen und Aufräumen in der Speisekammer wohl noch länger dauern wird. Die Mischung aus Mayonnaise und Sesampaste hat nicht nur die Ankerkette beglückt, sondern hat sich auch zwischen allen anderen Vorräten breit gemacht. Dies ist der erste See-Job unseres Kochs. Und seefestes Verstauen und Laschen ist er erst am Lernen.
Wir sind in Dieppe willkommen. Gestern kam unter anderem der Kapitän des Schleppers, der uns hierhin bugsiert hat, mit Partnerin und den Kindern vorbei. Ganz offen liegen die Sympathien der Familie eher bei der «Tres Hombres» als bei der Schifffahrtsindustrie, für die er arbeitet. Für mich die gleiche Erfahrung wie bei meinem Vortrag in Bremen, als ein Angestellter einer grossen Schweizer Container-Reederei das Wort ergriff. Er bestätigte nicht nur, was ich beschrieben hatte, sondern betonte, in der Praxis sei es noch schlimmer.
Die Stadt Dieppe hat schon bessere Tage gesehen. Wenige Schritte neben den Hauptgassen und den Touristencafés am Hafen machen zumindest in Hafennähe die Fassaden einen ärmlichen Eindruck. Eine Studie der EU sieht deshalb in der Frachtsegelei gerade auch für solche Küsten-Randregionen Chancen. Segelfrachter sind prinzipiell kleinere Schiffe und können deshalb dezentral kleine Häfen nutzen. Die grossen Frachter hingegen konzentrieren den ganzen Seeverkehr auf immer weniger und zunehmend automatisierte Grosshäfen. In den abgehängten Randregionen grassiert dagegen Arbeitslosigkeit. Zahlen habe ich keine, aber Dieppes zentrale Geschäftsstrasse besteht aus kleinen Läden. Zwar sympathisch, aber das heisst auch: Für die internationalen Ketten ist die Kaufkraft in dieser Stadt zu gering. Und um diesen Blog-Beitrag zu senden waren mehrere Expeditionen in die rund ein Kilometer entfernte Stadt nötig, bis ich endlich ein Restaurant mit Wifi fand. Noch vor drei Jahren hatte es überall Internetverbindung, selbst in Läden. Da hat man offenbar zurückgesteckt.
Im Hafen werden Bestandteile für Offshore-Windparks umgeschlagen. Doch das reicht kaum für mehr Wohlstand. Und die Meere grossräumig in Industriegebiete zur Energiegewinnung umzuwandeln, das verdient eben den Begriff «nachhaltig» auch nicht. Allein für die Opfer-Anoden (Metallstücke, die anstelle der zu schützenden Metallteile eines Schiffs, einer Ölbohr- oder Windkraftanlage vom Salzwasser «gefressen» werden) gelangen durch die Windparks riesige Mengen Zink und andere Metalle in die flachen, ökologisch sensiblen Küstengebiete. Was sie im Cocktail der anderen Schadstoffe zusätzlich bewirken, ist unbekannt…

Es wird Zeit!
Dieppe, Dienstag 29. November. Morgens halb sieben, Nebel, der alles durchdringt. Zeit, dass wir weiter in den Süden kommen. Für ein Schiff ohne Heizung ist es hier auf Dauer zu kalt. Am Donnerstag soll es Ostwind geben, morgen kommen die Segel vom Segelmacher zurück und heute sollen 60 Fässer an Bord. Gestern haben wir bereits die Fässer für die befreundeten Frères de la Côte geladen. Eines mit Wein, die anderen leer für den Rum aus Martinique. Die Frères de la Côte bauen in Holland an einem grösseren Segelfrachter, haben aber erst ein Viertel des nötigen Aktienkapitals zusammen. Überall fehlt das Geld für die konkreten Schiffe. Das Kapital fliesst eher in Richtung virtuelle Welten – absurd! Aus dem Fairtransport-Office kam gestern die Nachricht, dass 25 Exemplare meines Buchs über meine erste Fahrt mit der «Tres Hombres» bereits verkauft sind, nachdem sie das Angebot vor zwei Wochen ins Internet gestellt haben. «Wonderful!» würde dazu unser Wachführer Seb sagen. Das zeigt doch: Es gibt eine Nachfrage in der Gesellschaft, eine Nachfrage nach positiven Beispielen.
Das Schiff sieht derzeit aus wie eine maritime Brockenstube. Alles was in Den Helder vorerst im Laderaum gestaut wurde, haben wir gestern herausgenommen, um Platz zu machen für die Fässer. Auch als Speisesaal, als den wir wegen der Dauerkälte Abends den Laderaum benutzten, steht er ab heute nicht mehr zur Verfügung. Die Bibliothek ist voll mit Tauwerk aus Naturfaser. Dieses soll bis zu seinem Einsatz nicht nass werden. Fairtransport ist dabei, möglichst viele Leinen von Kunststoff – eine Quelle von Mikroplastik – auf Naturfaser umzustellen. Auch dafür müssen wir ebenso noch Stauraum finden wie für die Kisten mit den Äpfeln und Birnen, Kartoffeln, die Festmacher, das Toilettenpapier… Seefahrt macht einerseits pragmatisch, andererseits verfolgt ein Schiff wie die «Tres Hombres» ökologische Ziele – ein permanentes Spannungsfeld.

Die Fässer kommen (noch leer) an Bord, um später mit Rum gefüllt zu werden.

Wir machen uns wieder seeklar
Dieppe, 30. November. Die Segel sind gekommen, das Rigg ist «bevölkert» mit Crewmitgliedern und Trainees, welche die Segel anschlagen. Für die Stagsegel (Innenklüver und Bob) macht man dies am besten zu zweit. Und die Fässer lassen im Frachtraum immer noch so viel Platz, dass wir vieles wieder zurückstauen können. Neben Erfolgen gibt es auch Frust: Als ich gestern eines der beschädigten Taue mit einem Langspleiss flickte, war das Seil war so nass, dass die einzelne Kardeele viel zu schlabberig waren. Der Test ergab zwar, dass der Spleiss hält. Aber er sieht scheusslich aus, mein bisher schlechtester Langspleiss. Jetzt kann es nur noch aufwärts gehen.
Morgen kurz nach 16 Uhr ist die Tide günstig, so dass wir uns vom Industrie- durch den Aussenhafen aufs Meer schleppen lassen können. Ein leichter Ostwind soll uns endlich in Richtung Westen voranbringen. Gestern hätten wir gemäss Segelplan in Douarnenez abgelegt. Indem wir Baiona auslassen, können wir etwas Rückstand aufholen. Und wenn wir in der Bretagne um die Ecke kommen, dann gehts in Richtung Süden. Tropfnase adieu! Endlich…

Bevölkertes Rigg: Die Segel sind zurück, die halbe Crew ist im Vormast und auf dem Bugspriet dabei, sie wieder anzuschlagen.