Anne-Flore hatte eine grosse Skizze vom Stückgut-Hafen in Boca Chica in der Dominikanischen Republik gezeichnet. Wir sollten vor dem Bug eines Tankers einen Platz an der Pier bekommen, wobei unser Bugspriet dann über die Ecke hinaus in den Kanal zur Lagune ragen würde. Alles war vorbereitet, die Crew instruiert, die Festmacher ausgelegt, die Fender aufgehängt, der Steuerbordanker bereit, um mit kurzer Kette das unter Segel einlaufende Schiff im rechten Moment 90 Grad zu drehen… Die knifflige Einfahrt um die Bojen herum, welche das Riff anzeigen, meisterte unsere Kapitänin locker. Doch als wir auf unseren Platz zuhielten, war dieser besetzt: Der Bug des Tankers liess keinen Meter Pier für uns frei. In einer anderen Ecke das Hafens standen winkende Arbeiter. Da sollten wir jetzt hin.
Mit dem Rest an Fahrt gelang es noch, bei geborgenen Segeln das Schiff um 180 Grad zu wenden. Eigentlich stand der Wind mehr oder weniger in die Richtung, in die wir nun sollten. Doch eine Strömung drückte uns gegen das entgegengesetzte Ufer der Insel, die den Hafen gegen das Meer hin abschirmt. Mit wiederholtem Setzen und Bergen von Segeln versuchte Anne-Flore, das Schiff querab in die uns zugewiesene Lücke an der Pier driften zu lassen. Das Dingi mit seinem 40-PS-Aussenbordmotor unterstützte das Unterfangen. Doch bald wurde klar, dass wir es nicht in die zugewiesene Ecke schaffen würden: 30 Meter zu weit östlich. Zwei grosse Schlepper räumten deswegen vorübergehend den Platz an der Pier.
Per Wurfleine gaben wir die Festmacher an Land. Mit schmerzhaftem Krachen schrammte der Bugspriet unseres manövrierunfähigen Schiffs dem Beton entlang. Mit vereinten Kräften zogen wir die «Tres Hombres» an den vorgesehenen Platz. Der Schaden am Bugspriet hielt sich auf den ersten Blick in Grenzen: Die Verzierung am Stampfstock verbogen, das Stampfstag beidseitig aus der Verankerung gerissen. Die zerstörten Beschläge sind von jeder Metallwerkstatt leicht zu kopieren. Doch die Kette des Stampfstags fängt von unten die Kräfte der vom Bugspriet nach oben zu den Masten führenden Stage auf. Wir müssen deshalb verschiedene Teile des Riggs lockern, um die Kette erneut zu installieren, und dann alles neu spannen: Ein beträchtlicher Aufwand neben den anderen Vorbereitungen für die Überquerung des Atlantiks zurück nach Europa. Das Segeln ohne Motor fordert immer wieder seinen Tribut.
Besuch bei der Tanker-Crew
«Ich bin kein Held und kann die Welt nicht retten», meint einer der Ingenieure des Tankers, der die ursache unsers verunglückten Manövers war. Ich habe meine «No-Fossils»-Gitarre aus einem Benzinkanister mit an Bord des 142-Meter-Schiffs gebracht – eine kleine Provokation für ein Boot, das ausgerechnet den Schiffstreibstoff Schweröl transportiert. Die indische Mannschaft hat uns zum Essen eingeladen, das Achterdeck mit Lichterketten dekoriert und versucht mit lauter Bollywood-Musik, den Lärm des permanent laufenden Generators zu übertönen. Unser Koch hat in der grosszügigen Tanker-Galley Lasagne zubereitet für jene, denen die indische Küche zu scharf ist – wobei der Tanker-Kapitän betont, er habe sich bei der Schärfe extra zurückgehalten.
Die Gitarre steht unbeachtet an einen Poller gelehnt, bis ich Anstalten mache, aufzubrechen. Da wollen sie dann doch noch etwas hören. Also versuche ich, mit Blues gegen den Generator akustisch nicht total unterzugehen. Höflicher Applaus, bis eben der Ingenieur fragt, was der Klimastreik-Kleber auf der Gitarre bedeute. Es stellt sich heraus, dass er an Bord zuständig ist für die Zentrifugen, mit denen aus dem Schweröl (das ist der Rest, eigentlich Sondermüll, der übrig bleibt, wenn man die brauchbaren Anteile wie Benzin, Kerosin und Heizöl/Diesel aus dem Rohöl herausdestilliert hat) Sand und andere Festkörper entfernt, bevor man dieses der Maschine zumuten kann.
Der Ingenieur berichtet er habe seine Stelle verloren, weil er sich weigerte, den herausgeschleuderten Ölschlamm «Sludge» illegal ins Meer zu entsorgen. Dann war er ein Jahr arbeitslos, bevor er die Stelle auf dem kleinen Tanker fand, der Schweröl von Curaçao nach der Dominikanischen Republik transportiert. «Ich bin frisch verheiratet. Wir werden Kinder haben, und diese brauchen dann auch noch eine Welt», macht er sich Sorgen. Ein Freund habe bei einer Schweizer Container-Reederei an Bord Illegales gefilmt und den Behörden angezeigt. «Er verlor den Job und hat mich gewarnt, ich solle nicht auch zum Whistleblower werden.» Von einer Fahrt nach Singapur sei sein Freund dann nie mehr nach Indien zurückgekehrt. Ob er einfach anderswo eine Existenz gefunden oder aber umgekommen ist, bleibt offen. Ob bei einem allfälligen Unfall nachgeholfen wurde, ebenfalls. Und ob dabei ein Zusammenhang mit der Anzeige bestand, auch das bleibt Spekulation. Doch der Fall zeigt: Seeleute haben Angst – und sollen Angs haben – Umwelt-Sauereien anzuzeigen. «Outlaw Ocean» nannte der Journalist Ian Urbina sein Buch. Das Gespräch mit dem Ingenieur mündete in sdinen Wunsch: «Ich würde auch mal gerne als Trainee auf der Tres Hombres segeln.» Ein weiterer Seemann, der angesichts der Verhältnisse in seiner Branche mit uns Frachtseglern sympathisiert.
Revolutionär genug?
Jobs für ausstiegswillige Seeleute: Umso dringender wäre es, dass die Frachtsegelei aus der Alternativ-Nische heraus findet und die kritische Grösse erreicht, ab der die Frachtpreise nicht nur für Luxusprodukte wie Rum oder Kaffee tragbar sind. Und dies bei Heuern, die eine Seemannsfamilie ernähren würden.
Auf dem Weg von Marie Galante hierher wählte unsere Kapitänin nicht den kürzesten Weg, sondern wir segelten zuerst in Richtung Norden die auf der Leeseite die Kette gebirgiger Inseln entlang. Kleinststaaten oder Überseegebiete europäischer Staaten, oft nach irgendwelchen Heiligen benannt. Sightseeing vom Schiff aus. Ich habs genossen. Doch überkamen mich Zweifel, ob wir angesichts des kritischen Zustands des Ozeans bezüglich Klima und Biodivesität mit unserem Schiff revolutionär genug sind. Weniger transportieren heisst doch die Devise. Also Überflüssiges weglassen. Ist Rumtransport wirklich nötig, mal abgesehen von der Notwendigkeit, den Betrieb des Schiffs zu finanzieren? Emissionsfrei transportierte Kolonialwaren können den Umfang der notwendigen Veränderungen nicht genügend abbilden.
Die Besichtigung und der Abend an Bord eines Schweröltransporters und die Berichte des umweltbewussten Ingenieurs versöhnten mich dann aber: Vor dem Hintergrund dieser Verhältnisse haben wir mit unserem Schiff doch schon ein Stück des Wegs in die richtige Richtung zurückgelegt.
Karibischer Zerfall
Der Hafen von Boca Chica ist das totale Kontrastprogramm zur Reede vor Marie Galante: Staubig, laut, permanent überbeleuchtet, das Wasser so dreckig, dass niemand Lust hat, hineinzuspringen. Kommt ein Schiff, wird auch nachts gelöscht oder geladen. Wartende Chauffeure lassen die Motoren laufen, die Gabelstapler piepiepiepen häufig rückwärts. Ein Rudel Strassenhündinnen hält die Ratten fern und schaut uns mit traurigen Blicken beim Essen zu, indem sie sich an der Pier in kurzem Abstand zum Schiff aufstellen. Buchstäblich ein Hundeleben.
Der Stadtteil Andres, der an den Hafen angrenzt, versinkt im Müll, wobei ein Augenschein in der Hauptstadt Santo Domingo zeigt, dass es wohl in der ganzen Republik keinen öffentlichen Abfalleimer gibt. Fastfood-Geschirr sowie die Verpackungen der aus Übersee importierten Güter – vom nützlichen Gasherd bis zum bunt-überflüssigen Strand-Plastikschrott – würden eigentlich ein Abfall-System erfordern. So aber landet vieles – wenn nicht das Meiste – am Schluss im Meer. Globalisierung und Tourismus als Mikroplastik-Treiber.
Zudem fördert das feuchtwarme Klima aufgeplatzte Fassaden, rostige Dächer, schimmlige Aussenwände, karibischen Zerfall zumindest abseits der Touristen-Routen. Aufgewogen wird dies durch die Freundlichkeit der Menschen: Der Ersatz eines Armbands durch einen Strassen-Uhrenmacher zeigt angesichts der Gründlichkeit, mit der er die Uhr reinigt: Da ist ein Liebhaber am Werk, der begeistert von seiner Rolex-Kopie – auch diese aus China – berichtet.
Unerfreulich dagegen die Haltung der Behörden: Ob es um die Zahl der Fässer geht, die wir hier ausladen (was wir nicht gefüllt selber wieder mitnehmen, wird später mit Rum von der «Avontuur» abgeholt) oder ob sie blockieren können, dass ein Trainee als Ersatz für jene, die hier das Schiff verlassen, an Bord kommt: Immer wieder finden sie eine Möglichkeit, Abläufe zu bremsen. «Die wollen vor allem Geld, das ihnen unter dem Tisch zugeschoben wird», stellte der indische Tankerkapitän fest.