Endlich Bordroutine

Auf See lenkt keine Landschaft das Auge vom Himmel ab

«Daniel!» – … – «Daniel!! Whatchchange». Wachwechsel. Wohl oder übel muss ich aufwachen. Licht an. Socken und die lange Thermo-Unterhose noch im Liegen anziehen und raus, durch den Navigationsraum aufs Klo im Heck. Die Backbordwache hat sich angewöhnt, mir die Tür zur Toilette aufzuhalten – eine Freundlichkeit, die ich bei Regen besonders schätze. Doch in dem engen Kämmerchen ist es bei Wind von Backbord, der den Regen horizontal durch die Türritzen treibt, auch nicht immer trocken. Also schnell zurück, fertig anziehen und im Ölzeug pünktlich zum Wachwechsel erscheinen. Der Zeitpunkt des Wachwechsels ist heilig, denn die abtretende Wache ist müde, will dahin, wo ich herkomme: in die Koje.

Kaffee – für viele an Bord ein Grundnahrungsmittel – wird auf der Tres Hombres von Hand gemahlen

Da die erste Etappe bis Dieppe etwas grob war, konnten wir nun endlich doch Bordroutine entwickeln. Während die kommende Wache am Morgen frühstückt, lenzt die abtretende Wache die Bilge, denn in diesem Augenblick schläft niemand, der durch die Pumpe geweckt werden könnte. Während nach dem Wachwechsel die abtretende Wache frühstückt, wird draussen das Deck geschrubbt. Sind nach dem Frühstück die Übernächtigten – sie waren in der Nacht insgesamt acht Stunden an Deck – in der Koje verschwunden, putzt die neue Wache die Galley. Je nach Wind und Wellen steht man beim Abwaschen immer wieder in den aufs Deck schwappenden Wellen, oder kriegt von oben eine Gischtdusche. Breitbeinig versucht man, das Gleichgewicht zu halten oder sich irgendwo abzustützen: mit den Knien an der Kiste mit den Gasflaschen, mit dem Hintern an der Nagelbank, auf der die Leinen der Rahsegel belegt sind. Auch der Topf, aus dem man die Essensreste und das Angebrannte kratzt, muss mal als Stütze herhalten. Das gleiche wiederholt sich mittags und abends: Die neue Wache macht die Küche sauber. Dazwischen die Segelmanöver oder auch einfach nichts, weil der Trimm stimmt und das Schiff läuft.

Trübes Wetter mit gutem Wind sind uns lieber als Flauten mit Sonne

Nachdem wir am Donnerstag, 1. Dezember in Dieppe abgelegt haben, rauschten wir mit Ostwind in zwei Tagen bis zur Westspitze der Bretagne und drehten dann ab in Richtung Südwesten, hinaus auf den Atlantik. Die «Tres Hombres» lief bis zu 12 Knoten, die Wellen schräg von hinten liessen das Schiff stark rollen. Doch am Sonntag flaute der Wind ab, die Sonne verwandelte das Schiff vom segelnden Kühlschrank zum Wäschetrockner. Das Deck war zugehängt mit Decken, Ölzeug, Socken… So ging es weiter, mal mit kräftigem Wind, mal mit in der Flaute flappenden Segeln. Am 9. Dezember notierte ich: «Der erste Tag ohne Thermounterwäsche.»

Berührende Begegnung

Wale dürfen auch rechts überholen

Wir segelten einen langen Bogen weit in den Atlantik hinaus in der Hoffnung auf einen Winddrehung, die uns dann in Richtung Kanarische Inseln schieben würde. Die atlantische Weite belohnte uns: Auf Rückkehr aus der Galley entdeckte ich einen Wal, der kurz hinter dem Schiff eine Fontäne in die Luft blies. Dann folgte ein Rücken nach dem anderen, manchmal nur eine Flosse, manchmal konnte man ahnen, dass da ein grosses Tier wenige Meter von uns gegen Süden zog. Anne-Flore identifizierte sie als Finnwale. Die Tiere schnauben schnauben wie Pferde oder Kühe, vermitteln dabei eine majestätische Gemächlichkeit, können über 20 Meter lang werden. Bald stand nicht nur unsere Wache, sondern schliesslich die ganze Crew an Deck: «Da…» und «dort!» Wir liefen mit 8 Knoten, sie überholten uns rund über eine Stunde lang mit etwa der anderthalbfachen Geschwindigkeit. Grosse, mittlere, kleine. Schliesslich, als der Strom der Meeressäuger nicht enden wollte, holte ich unter Deck doch noch die Kamera. Aber es gibt Ereignisse, die kann man nicht fotografieren, da versagt die Elektronik. Der Eifer, im richtigen Moment abzudrücken, verdrängt die Emotionen einer solchen Begegnung.
Den Walen war unser Schiff offensichtlich egal. Ganz anders die Delfine, die regelrecht mit der «Tres Hombres» spielen. Haarscharf flitzen sie am Bug vorbei, schwimmen auf der anderen Seite etwas nach achtern, kehren um und wiederholen schräg von hinten kommend das Manöver, manchmal allein, oft zu zweit oder zu dritt. Irgendwann haben sie dann genug und ziehen weiter. Ein dänischer Mitsegler war von der Begegnung zu Tränen gerührt – nicht zuletzt wegen dem Wissen darum, dass wir dabei sind, das alles zu zerstören.

An der Kante zur Katastrophe

Wachführer Arthur gibt an Deck Unterricht

Ohne es bewusst zu formulieren war ich lange der Ansicht, dass der Schutz der Meere aus ethischen Gründen notwendig sei. Immer mehr entdecke ich, dass dies mit Moral oder mit Mitleid den Tieren gegenüber nicht ausreichend zu erklären ist. Vielmehr sind wir an Land existenziell von den Ozeanen abhängig. «Stirbt das Meer, sterben auch wir», bringt es die schottische Deckshand Eilish auf den Punkt.
So geht es längst nicht mehr nur darum, Robben vor der Jagd oder Wale vor der Kollision mit Schiffen zu schützen. Vielmehr bringt die Klima- und damit die Meeres-Erwärmung die über Jahrtausende eingespielten Mechanismen beim Plankton aus dem Gleichgewicht. «Beunruhigend ist vor allem, dass sich der Lebensrhythmus der wichtigsten Nahrungsgrundlage in den Ozeanen, der des pflanzlichen Planktons verändert», schrieb die «World Ocean Review» bereits 2010. Dieses Magazin fasst in verständlicher Sprache die wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, wird in Englisch, Deutsch, Chinesisch und Thailändisch publiziert und gratis abgegeben. Finanziert wird dies unter anderem von einer Stiftung, welche von Elisabeth Mann, einer Tochter von Thomas Mann, gegründet wurde. Doch obschon man die Information gratis und franko bestellen kann, kenne ich keine Organisation und keine parlamentarischen Vorstösse zum Schutz des Planktons, dieser Klein- und Kleinstlebewesen, die in den Ozeanen eine gigantische Menge Biomasse produzieren, die dann vom ebenfalls kleinen tierischen Plankton gefressen wird, das wiederum nicht zuletzt den Fischen, aber auch dem Finnwal als Nahrung dient. Wegen der Meeres-Erwärmung blühen einige Planktonarten – analog zu den Obstbäume an Land – früher. Kommt dann das tierische Plankton zu seinem Höhepunkt, ist das pflanzliche bereits wieder abgestorben, das Zooplankton hungert. Andererseits kommt es wegen der ins Meer gespülten Dünger aus der Landwirtschaft und der ungenügend geklärten Abwässer lokal zu übermässigem Algenwachstum und dann beim Abbau durch Bakterien zum Verlust des Sauerstoffs im Wasser. Am Grund lebende Tiere, die nicht flüchten können, kommen in diesen Todeszonen um.
Beim Abbau einiger Planktonarten entsteht Schwefeldioxid. Diese Moleküle dienen den bei der Verdunstung entstehenden Wasser-Aerosolen als Kondensationskerne. So entstehen Wolken und letztlich Regen und Schnee. Wird nun der wegen des Klimawandels aus dem Gleichgewicht geratene Planktonhaushalt zu mehr oder weniger Niederschlägen führen? Wir werden es wissen, wenn es zu spät ist.
«Die Ozeane nehmen etwa 30 Prozent unserer Emissionen auf, und ihr pH-Wert ist seit der Industrialisierung um 0,1 Einheiten gesunken, wodurch das Wasser viel saurer geworden ist. Dies wiederum treibt die Weltmeere auf ein Massenaussterben zu, wie es seit etwa 250 Millionen Jahren nicht mehr vorgekommen ist.» Dies schreibt nicht eine grüne Öko-Organisation, sondern ein Beratungsbüro für Investoren (Mirova US). «Wissenschaftler gehen davon aus, dass damals bis zu 90 Prozent der Meeresorganismen aufgrund der überhitzten, sauren und sauerstoffarmen Ozeane ausgestorben sind.» Das Fazit der Investment-Manager: «Unkontrollierte menschliche Aktivitäten bedrohen daher das ökologische Gleichgewicht unserer Ozeane, beeinträchtigen ihre biologische Vielfalt und ihre Fähigkeit, den Klimawandel abzumildern, und gefährden die Einkommens- und Nahrungsquellen vieler Gemeinschaften. Wenn wir jetzt nicht handeln, droht eine Katastrophe.»
Dann nennen sie ein paar Beispiele von Projekten, mit denen sich das Massensterben wenigstens mildern liesse. Den Seetransport unter Segeln erwähnen sie nicht. Schade, denn die Nachfrage nach gesegelten Produkten wäre vorhanden. Dies zeigt sich auch hier im Hafen von Santa Cruz de la Palma. Zwar strömt die grosse Mehrheit der Kreuzfahrt-TouristInnen an unserem Schiff vorbei und lässt es beim Handyfoto bewenden. Doch etliche kommen näher, beobachten uns beim Laden der gefüllten Rumfässer, haben schon mal gesegelte Schokolade oder Kaffee gekauft, stellen Fragen, wollen mehr wissen.

Nach 18 Tagen angekommen um weiter zu segeln

Zwei Tage lang schlichen wir der Nordküste von Teneriffa entlang, setzten Segel, bargen sie wieder, wenn sie wirkungslos herumflappten, schifteten sie, wenn die Richtung des Hauchs – Wind kann man das nicht nennen – wieder mal wechselte. Die erhoffte Winddrehung war nicht im nötigen Umfang eingetreten, wir waren zu weit nach Süden gekommen: Dümpeln in Sichtweite des Ziels. Schliesslich liess Anne-Flore das Dingi aussetzen und die letzten zehn Kilometer stiess uns der 40-PS-Motor des Schlauchboots in Richtung Hafen. Das verletzt das Prinzip des emissionsfreien Transports. Doch hätte die «Tres Hombres» einen Motor, dann hätten wir diesen sicher früher angeworfen, denn wenn man sieht, wo wir hinwollen, das Ziel praktisch greifbar ist, dann wird die Geduld arg strapaziert.
Die Insel hat zwar viele Naturwunder zu bieten. Doch in den Strassen überwiegt eine Bevölkerung im Rentenalter. Die mittleren Jahrgänge migrieren, suchen anderswo Arbeit. Abgesehen von einer ausgedehnten Bananen- Monokultur liegt die Landwirtschaft weitgehend brach. Die Versorgung erfolgt per Schiff, Weltmarkt-Nahrung. Dazu ein bisschen Tourismus durch die Kreuzfahrtschiffe: Am morgen spucken sie die Gäste an Land, am späten Nachmittag kommen diese zurück. Viel Geld lassen sie wohl nicht auf er Insel.
Am zweiten Weihnachtstag soll es Nordwind geben. Dann machen wir uns auf in Richtung Südwesten, um den Passat zu erreichen, der uns über den Teich schiebt, direkt nach Martinique, wo wir weiteren Rum laden und Wein abliefern. Segeln auch nachts im T-Shirt, unter Sternenhimmel – die wohl schönste Etappe der Reise. Nicht nur für uns: Tagsüber wird es Zeit geben, unserer alten Dame etwas Liebe entgegen zu bringen, den alten Dreck vom Schanzkleid und den Blöcken zu schleifen und sie mit neuem Leinöl aufzufrischen. Hier und da ist auch Holzteer nötig. Ein Schiff ist nie fertig, sondern braucht permanent Pflege. Eigentlich ist geplant, weitere Leesegel zu nähen. Mal sehen, ob wir neben der langen Liste an Unterhaltsarbeiten dafür Zeit finden.

Der Wind frischt auf