Oberems, Donnerstag, 27.4.2023
Beim Erwachen bin ich verwirrt, meine zuerst, ich sei noch auf dem Schiff. Im Halbschlaf höre ich das Geräusch aus der Galley (Schiffsküche), wenn man den Haken des Schranks zu den Tellern und Blechnäpfen löst. Hier in einem Walliser Dorf auf 1340 Meter über Meer warte ich ab, wieder in Basel einziehen zu können, denn meine Wohnung ist noch bis Ende Monat vermietet. Wenig Schnee gab es hier im Winter. Und bereits im vergangenen Jahr hingen in der Nachbargemeinde Ergisch ein Aufruf bei der Bushaltestelle, wegen des ebenfalls schneearmen vorderen Winters sei das Wasser knapp, man solle Sorge dazu tragen. Heute melden die Medien eine neue Rekordtemperatur der Weltmeere. Und als ich hier im letzten Sommer die untere Zunge des Turtmanngletschers besuchen wollte, fand ich nur noch eine Steinwüste vor. Ohne dass ich im Detail beschreiben könnte, wie wir die ineinander verschränkten physikalischen, chemischen und biologischen Mechanismen durcheinander bringen, ist mir klar: Da besteht ein Zusammenhang. Ozean und Alpen gehören zusammen.
Am Sonntag in der Früh kam ich in der Schweiz an. Der Dreck unter den Fingernägeln stammt noch von der «Tres Hombres». Über «Signal» treffen Meldungen ein, dass anderen die Rückkehr in die «Zuvielisation» ebenfalls schwer fällt. Einzelne wollen im kommenden Winter die Seefahrtschule in Enkhuizen besuchen. Viele vermissen die Gruppe.
In der Tat war dieses Mal unter anderem davon geprägt, dass die meisten die ganze Reise an Bord blieben und es viel weniger Wechsel gab als auf meiner ersten Reise mit der «Tres Hombres». So wurden wir auch mit Leuten vertraut, die einem an Land nicht auf Anhieb sympathisch wären. Auf so einem Schiff kann man sich nicht ausweichen und stellt dann fest, dass der oder die andere interessante Ansichten hat, einem solidarisch hilft, dass man im Team aufeinander angewiesen ist. Man wächst zusammen.
Ausser Lasse, der erst in Boca Chica für die Rückfahrt über den Atlantik an Bord kam und beruflich weg musste, blieben alle an Bord, bis am Freitag das letzte Fass ausgeladen war. Unausgesprochen waren wir uns einig: Frachtsegeln endet erst mit dem Löschen der Ladung.
Überzeugungstäter
Am Pier in Amsterdam Nord, wohin wir nach dem Löschen des Kakaos bei der Fabrik der Chocolate Makers geschleppt wurden, liegt auch die «Zeehaen» der Frères de la Côte, für die wir Fracht nach Martinique und Rum nach Europa gesegelt haben. François, der manchmal auch als Kapitän auf der «Tres Hombres» segelt, führte uns durch das Schiff. Oder besser gesagt: durch den Rumpf. Vielmehr ist von dem ehemaligen Fischtrawler, der zwischen Neufundland und Europa verkehrte und der nun zum Segelfrachter umgebaut wird, noch nicht vorhanden. Engagiert zeigte uns François, wo das Logis der Mannschaft und der Trainees hinkommt, ja sogar eine Dusche und einen Heizung, wo man das nasse Ölzeug aufhängen kann, wo die Fracht gestaut werden wird, wo das neue Deckshaus hinkommt. Er selber bewohnt einen Container, der am Heck auf dem Deck steht. Zwischen Werkzeug und Maschinen eine Hängematte, ein Gaskochherd… Da ist noch unendlich viel Arbeit zu leisten, und da sind noch beträchtliche Summen nötig, bevor die «Zeehaen» Segel setzen kann. Hier sind Menschen am Werk, die neben ihrer Seefahrtkompetenz sich vor allem von ihrer Überzeugung leiten lassen. Auch wenns zuerst unmöglich scheint. Auch wenn die Hindernisse riesig sind.
Zwischen uns und der «Zehaen» lag der Schoner «Ide Min». Die Vanuatu-Flagge am Heck weckte mein Interesse: Der kleine pazifische Inselstaat steht bei Segelfrachtern hoch im Kurs. In der Tat sei die «Ide Min» dabei, sich vom Passagiercharter- zum Frachtschiff zu wandeln. Allerdings sei dafür noch Papierkram mit den Versicherungen zu erledigen. Dieses «Paper work» bereitet auch der «Tucker» der Genossenschaft Ecoclipper Kopfschmerzen. Eigentlich sollte das Schiff am Sonntag in Amsterdam zu seiner ersten Fahrt als wieder instand gestellter Segelfrachter ablegen. Doch immer noch liegt die «Tukker» in Den Helder, gefangen in bürokratischen Abläufen. Trotzdem: Die Zahl der Schiffe, die sich schrittweise vom Passagier-Chartergeschäft hin zum Frachttransport entwickeln wächst. Die «Gallant», welche den Atinkana-Kaffee aus Kolumbien segelt, hat diesen Schritt bereits hinter sich. Die Bewegung wächst, wenn auch langsam.
Ein Privileg
Die grossen Reedereien setzen – wenn sie sich überhaupt für die Dekarbonisierung interessieren – auf neue Treibstoffe, für die es vorläufig weder die Infrastruktur noch Erfahrungen gibt, sondern Absichtserklärungen, Rufe nach Regierungs-Unterstützung, ein paar bestellte Prototypen, hier und dort ein Memorandum of Understanding, Ingenieurs-Ideen, und – wie ein Reeder kritisiert – Unterkapitalisierung. Doch machen wir uns nichts vor: Auch die unter Segeln von ein paar IdealistInnen transportierten Mengen sind immer noch symbolisch. Die wertvollste Fracht ist die Botschaft, dass es anders ginge – und gehen muss.
Meine Idee, die Zeit an Bord deshalb für ein entsprechendes Bildungsprogramm zu nutzen, liess sich allerdings nur in bescheidenen Ansätzen umsetzen. Zwar referierte ich an Heiligabend über die Gründe, weshalb die UN-Schifffahrtsorganisation IMO beim Klimawandel viel zu langsam agiert und weitgehend versagt. Vor Marie Galante auf Reede hielt ich einen Vortrag zu den Folgen des Klimawandels für die Artenvielfalt der Ozeane. Immerhin erläuterte dann Kadda die Forschungsarbeit des Fraunhofer Instituts in Freiburg (D) zu neuen Treibstoffen, und Oliver berichtete über seine Arbeit als Bio-Zertifizierer, der in Lateinamerika für europäische KundInnen inspiziert, ob auch bio drin ist, wenn für bio kassiert wird.
Da gibt es also bezüglich Botschaft und Diskussion noch Luft nach oben. Das Ganze hängt stark ab von den Profis an Bord. Kapitänin Anne-Flore bemerkte einmal, sie komme weniger von der Seite der Klima-AktivistInnen und WachstumskritikerInnen als eben vom Segeln. Und doch: Mit ihr haben wir sowohl was Seemannschaft als auch was Führungskultur anbelangt, das grosse Los gezogen. Dass wir bis auf eine Ausnahme alle geschlossen bis zum Entladen des letzten Fasses (und notabene der Frachtlösch-Party) an Bord blieben, dass bei einigen Abschieden Tränen flossen, das hat zu einem guten Teil damit zu tun, wie die Kapitänin, die Mates («Offiziere»), der weibliche «Bootsmann» und die beiden weiblichen Deckshands das Schiff auch im Sozialen führten.
Dazu ein paar Worte aus Anne-Flores Ansprache am letzten »Two-o-clocky«, der Vollversammlung jeweils um 14 Uhr: »Ich habe das Gefühl, dass Ihr das Beste von Euch gegeben habt, um diese Mission zu ermöglichen. Ich schätze die Hingabe sehr, die ihr für dieses einzigartige Abenteuer aufgebracht habt. Was ihr in den letzten Monaten auf der ›Tres Hombres‹ erlebt habt, gibt es nirgendwo sonst. Ihr verdient es, stolz darauf zu sein. (…) Ein Schiff ist für mich immer ein Spielzeug und ein Werkzeug gewesen. Es ist eine Stütze, voller Toleranz und doch ruppig genug, um dich immer wieder auf deinen Platz zu verweisen und dich stark in deinen Stiefeln zu fühlen, aufrecht auf deinen Beinen, wenn die Zusammenarbeit mit Zufriedenheit verschmilzt.«
Es war ein Privileg, auf dieser Reise mit an Bord zu sein, zu arbeiten, zu leben.
Noch ein weiter Weg
Basel, 3. 5. 2023
Immerhin konnte die »Tucker« mittlerweile in See stechen und segelt soeben durch den Ärmelkanal in Richtung Portugal, um Olivenöl und Wein für England zu laden. Die »Tres Hombres« hat gerade den Hafen von Amsterdam via Ijmuiden in Richtung Spanien verlassen, wo sie Wein für Kopenhagen laden wird. Die »Gallant« und die »Avontuur« sind immer noch in der Karibik unterwegs.
Hier hole ich nun meinen Kram aus dem Lagerraum und richte die Wohnung wieder her. Nachdem ich ein halbes Jahr buchstäblich auf den Inhalt des Seesacks reduziert war, erschreckt mich die Menge Zeugs wie Bastelmaterial, Musikinstrumente, Akten etc., die ich Lauf meines Lebens angesammelt habe. Da kann und muss vieles weg. »Buy less, buy better, buy local, by sail«, fassen schliesslich die englischen New Dawn Traders die individuelle Botschaft der Segelfrachter zusammen.
Beim Ersatz meines Telefonapparats, der kurz vor meiner Abreise wegen Altersschwäche sich immer weigerte zu klingeln wenn jemand anrief, tigerte ich durch verschiedene Läden. Bevor ich in einer Brockenstube ein Secondhand-Telefon fand, schockte mich der Überfluss an Waren. Diesen erlebe ich nach Monaten guten Lebens mit den begrenzten Ressourcen an Bord der »Tres Hombres« – und angesichts der Klimakrise, des Artensterbens und der weltweiten Ungleichheit – besonders intensiv als Obszönität: Konsumterror statt Respekt vor den Grenzen unseres Planeten.
Da haben wir noch einen langen Weg und viel Arbeit vor uns.