Atlantik, 6. Januar 2023
Meine Hände kriege ich beim besten Willen nicht durchgezwängt. Eigentlich stand auf der Packung, dass der Anzug meiner Gewichtsklasse entspreche. Schliesslich kommt mir Tim zu Hilfe, der Arthur, der hier in La Palma das Schiff verlässt, als ersten Mate ersetzt: «Dann musst Du halt eine Übergrösse nehmen.» Ich schäle mich aus dem gelben Neopren heraus und versuche es mit dem roten Anzug. Da enden die Hände direkt in grossen Gummihandschuhen. Wie man damit den Reissverschluss so zuziehen soll, dass der Bart nicht eingeklemmt wird, ist das nächste Rätsel. Aber genau das ist der Sinn der Sinn der Übung: Falls wir wirklich – beispielsweise nach einer Kollision – das sinkende Schiff verlassen müssten, wäre keine Zeit für Anproben der richtigen Grösse.
Nachdem ich endlich in dem Teletubby-Anzug stecke, kommt die Schwimmweste hinzu und die Instruktion, wie wir damit ins Wasser springen sollen: Mit der einen Hand das Gesicht schützen, mit dem anderen Arm die Rettungsweste so festklemmen, dass sie einem beim Eintauchen nicht ins Gesicht schlägt.
Dann der Schritt über Bord. Irgendwie kriege ich trotzdem Salzwasser in die Nase. Doch dann liege ich im Hafen von la Palma auf dem Rücken. Schon schiebt mir jemand die Füsse unter die Arme. Wir bilden eine lange Kette, immer die Füsse unter den Achseln des Vordermanns respektive der Vorderfrau eingehängt, und versuchen, koordiniert zu paddeln. Auf diese Weise sollen wir mitten im Ozean im Notfall einander nicht verlieren und versuchen, die hoffentlich dann aufgeblasene Rettungsinsel zu erreichen. Schliesslich bilden wir einen Ring, bis wir einzeln zum Schiff zurückrudern und an Bord klettern – mein bisher ungewöhnlichstes Weihnachtsprogramm und eine anregende Verdauungsübung nach dem üppigen Mahl.
Schon der Vorabend entsprach nicht der Norm: Heilig Abend hielt ich einen Vortrag zu den Strukturen der Schifffahrtsindustrie und den Gründen, weswegen die Schifffahrtsorganisation der UNO (die IMO, International Maritime Organisation) so ineffizient ist, wenn es um Klimawandel und Kontrollen auf See geht. Der Grund für das gedrängte Programm: Am zweiten Weihnachtstag wollte Anne-Flore auslaufen. Sie rechnete damit, dass wir dann auf einen Nordostwind zählen können, der uns bis in den Passat schiebt.
Der Start verlief dann harzig. Der Nordostwind liess auf sich warten. Vielmehr drückte uns ein leichter Westwind gegen die Pier. Nachdem das Schiff seefertig gemacht war, standen wir alle stundenlang im strömenden Regen an Deck und beobachteten jede Winddrehung. Schliesslich drehte der Wind, respektive er schlief ein. Indem wir das Schiff Poller für Poller am Pier in Richtung Hafenausfahrt zogen und das Dingi dabei half, erreichten wir schliesslich doch offenes Wasser. Geschafft! Doch nun zeigte sich das nächste Problem: Eine in Ufernähe auflandige Dünung liess das Schiff so stark rollen, dass die flappenden Segel den leichten Hauch nicht in Vortrieb umwandeln konnten. Rund hundert Meter vor dem Hafen drifteten wir. Bootsfrau Estée musste mit dem Dinghi das Schiff weiter hinaus schieben, bis wir etwas aus dem Windschatten des Ufers raus waren und endlich Fahrt unter Segeln aufnehmen konnten: Südwind, falsche Richtung. Der Magen meldete sich ob der Dümpelei in unerwünschter Form: Meine Anfangs-Seekrankheit nach der jeweiligen Abfahrt aus dem Hafen.
Kurzerhand entschloss sich Anne-Flore, dann halt nach Norden zu segeln. «Mit so leichtem Wind und derartigem Seegang zu kreuzen macht wenig Sinn», meinte sie. Also umrundeten wir La Palma im Norden und erreichten den offenen Atlantik. Von da an ging die Post ab. Die Nordostwind-Prognose erfüllte sich. Die ersten Tage mit jeweils über 200 Seemeilen pro Tag rauschten wir in Richtung Südwesten, erreichten bald den Passat. Zwar machen wir hier im Schnitt «nur» noch etwa 160 Seemeilen in 24 Stunden, aber da wir abgesehen vom Start nie Flaute hatten, wird es eine schnelle Überfahrt: Martinique, wir kommen!
Schiffsschreiner
Im Passat zu segeln ist kein Kunststück: Der regelmässige Wind weht stetig von achtern oder auch mal leicht schräg von hinten. Von Leuten, die diese Reise auf einer Yacht unternommen haben, hörte ich auch schon das Wort «langweilig». Natürlich findet man bei jedem Wach-Antritt den gleichen Horizont vor, die gleichen leichten Wellen, und in der Koje wird man vom Rollen des Schiffs hin und her gewiegt. Doch erstens ermöglichen die nur noch seltenen Segelmanöver, die Wachen mit weniger Personen zu besetzen. So hat man dann ab und zu eine «Ferienwache», kann also mindestens acht Stunden durchschlafen oder tagsüber sich persönlichen Interessen widmen: lesen, schreiben, blau machen. Auch auf Wache ist man nachts nicht dauernd gefordert. Eine grosse Wolldecke auf dem Dach des Navigationsraums wird zur Liegewiese. Und wer mit der leisen Musik aus irgend einem Handy nicht einverstanden ist, verzieht sich aufs Vordeck: Nur das Rauschen am Bug, Mond in allen Stadien, der sich hinter der leichten Bewölkung kaum verstecken kann, der eine oder andere Stern: Ozean pur.
Zudem bietet die recht gleichförmige Fahrt tagsüber auf Wache Gelegenheit für allerhand Pflegearbeiten am Schiff. Die alte Schicht abkratzen, schleifen, neues Leinöl. Dem Seewasser ausgesetztes Holz dürstet nach Öl. Und die ganzen Kneifbändsel («Seizings») im Rigg rufen nach frischem Wurzelteer. Dabei bin ich zunehmend in die Rolle des Schiffs-Schreiners gerutscht. Zuerst eine neue Klampe aus Eichenholz für die Steuerbord-Gaffelgeer, dann Reparaturen am Boden unter Deck, Montage einer Stütze am Trinkwasserpumpenschrank oder ein Schutzkragen für das Kochgas-Hauptventil.
Dieses befindet sich in der Galley knapp über dem Fussboden an Backbord neben dem Herd. Dabei werden regelmässig schwere Kochtöpfe daran vorbei in eine kleines Regal verstaut und jemandem ist es eingefallen, einen Topf so zu laschen, dass er bei jeder Welle gegen das Ventil pendeln konnte. «Ich habe schier eine Herzattacke gekriegt, als ich das sah», meint Bootsfrau Estée. Auf dem Weg nach La Palma musste Arthur nämlich bereits ein Leitungsleck gleich beim Ventil reparieren. Explosionsfreudiges Gas, das sich am tiefsten Punkt im Rumpf sammelt, ist die grösste Gefahrenquelle an Bord.
Also machte ich mich daran, aus einem versifften Stück Holz, das wohl mal als Brot-Schneidebrett und dann als Unterlage zum Anrühren von Farbe und Teer gedient hatte, ein Kästchen zu zimmern, welches das Ventil vor herumrutschenden Kochtöpfen, zerschellenden Zuckerdosen, ausrutschenden Menschen und ähnlich unkontrolliert fliegenden Objekten schützt und trotzdem so klein ist, dass man weiterhin Zugang zum Regal hat. Zwei Tage, dann waren die Herausforderung, auf einem krängenden und rollenden Schiff auf einer improvisierten Werkbank in einem rechten Winkel zu bohren und zu sägen, geschafft. Sieht nach dem Schleifen und Lackieren sogar passabel aus. Man kann sich eben Zeit nehmen, denn wir segeln im Passat.
Ankunft in der Karibik
Martinique 15. Januar 2023
Gestern Nachmittag fiel hier unser Anker. Somit haben wir den Atlantik innerhalb von nur 19 Tagen überquert. Eigentlich sind wir bereits am Vormittag in die Bucht von St. Anne im Süden der Insel Martinique eingelaufen. Ein Wald von Masten zeigt: Für viele Yachtsegler ist hier ein bevorzugter Ankerplatz. Ein mittlerweile schon rostiger Schoner war meines Wissens bereits vor drei Jahren hier. Da verbringt wohl jemand den Lebensabend in diesem tropischen Stück Frankreich.
Wir segelten auf und ab und suchten einen geeigneten Ankerplatz. Anne-Flore wollte im ruhigen Wasser der Bucht das Mann-über-Bord-Manöver üben. Also ging ein Fender mit dem Handwasch-Eimer vom WC als «Schleppanker» über Bord. Sofort wenden und dann beidrehen. Das bedeutet, dass man die Segel so stellt, dass sich das Schiff weder vorwärts noch rückwärts fährt, sondern langsam seitlich driftet. Das klappte alles gut, bis das Dingi im Wasser war. Der Motor versagte. Die Tage auf dem Atlantik hatten der Verbindung zwischen dem Drehgriff, mit dem man das Gas reguliert, und dem Motor zerfressen. «Dabbeljudiiforty» (Rostlöser WD 40) half auch nicht weiter. Bis der Motor endlich klar war drifteten wir in kurzer Distanz am Fender vorbei. Rimkes Rufe, er solle doch zum Schiff schwimmen, überhörte er stur. Als der Motor endlich geflickt war, wurde der Fender dann doch mit einer Bahre an Bord gehieft und liebevoll mit einer Wolldecke zugedeckt: Wer aus kaltem Wasser (also weiter nördlich) geborgen wird, darf nur horizontal gelagert und transportiert werden, weil sonst der Kreislauf kollabiert. Auch eine technisch verunglückte Übung vermittelt wichtiges Wissen.
Höhepunkt des letzten Teils der Überfahrt war für mich der Geburtstag. Auf See bekommen Kleinigkeiten mehr Bedeutung. Ein an Land wohlwollend zur Kenntnis genommenes Zitronencake wird zur bewegenden Überraschung. Eine gerappte Laudatio, zu der die Mannschaft bei der mitttäglichen Vollversammlung den Rhythmus summt und trommelt, treibt mir Schweiss und Tränen vermischt mit Sonnencreme in die Augen. Hinzu die kleinen Geschenke inklusive ein von der Kapitänin an Bord genähter Lederbeutel – alleine schon die Geburtstagsfeier wäre ein Grund, jedes Jahr mit der «Tres Hombres» den Atlantik zu überqueren. Wir leiden an Bord keinen Mangel. Aber die Ressourcen sind eben beschränkt. Man isst jenes Gemüse, das auf einem Schiff ohne Kühlschrank als nächstes verderben würde. Da ist die Phantasie des Kochs gefordert, mehrere Auberginen-Tage abwechslungsreich zu gestalten. Doch gerade durch diese Grenzen bereiten «Kleinigkeiten» wie ein Ragusa-Riegel eine Freude, die an Land vom Überfluss, der zur Falle wurde, erstickt würde. Dies ist wohl eine der Botschaften der «Tres Hombres»: Der Abschied vom materiellen «Haben» bedeutet nicht einfach nur Verzicht oder Verlust.
Wir liegen nun einige Tage hier vor Anker, bevor wir zum Löschen der Fracht in den Hafen von Marin geschleppt werden. Später werden wir Rum an Bord nehmen. Und der nächste Auftrag an den Bordschreiner ist bereits in Sicht: Ein Paddel für die «Papalagi», die kleine Optimisten-Jolle, die wir an Bord haben.