Der kurze Trip durchs Industriegebiet «Nordsee»

Kalt. Schnell noch einmal in die Kabine, um eine weitere Schicht unter die Jacke zu montieren. Kapuze über die Mütze, die Handschuhe sind ein Segen. Eine Mai-Nacht auf der Nordsee.

Rund zwei Tage hat die Reparatur der angeknacksten Rah im Amsterdam gedauert. Dazu der Mannschaftswechsel, das Löschen der Fracht. Alles in nur drei Tagen Amsterdam. Und natürlich Party: Ein Quintett spielt auf, viel Musik aus Lateinamerika, Gitarre, Bass, Geige, Cello und ein mexikanisches Instrument, dessen Name ich nicht kenne. Mehrstimmige Lieder, die unter die Haut gehen. Und wenns richtig zur Sache geht hüpft die Geigerin bei ihren Soli wie ein Gummiball auf und ab, der Bassist stampft den Rhythmus auf der Deckskiste, in der wir die Werkzeuge für die Arbeit mit den Seilen verstaut haben. Als die Gruppe ihr offizielles Programm beendet hat, setzt sie sich hin uns spielt einfach aus Freude weiter: Diese Band möchte ich mal am Uhuru, dem Festival auf dem Weissenstein sehen! Eine der Sängerinnen war auf meiner ersten Reise als Deckshand an Bord. Segelfrachter sind nicht zuletzt ein Anziehungspunkt für KünstlerInnen.

Mit dieser Stahlmanschette ist die Rah stärker als zuvor.

Die reine Spielfreude an Deck.

Nach der Schleppfahrt durch den Kanal von Amsterdam nach Ijmuiden haben wir am frühen Nachmittag die Segel gesetzt. Leichter Wind, alle Segel rauf. Gute Fahrt, wir jubeln: Endlich auf See. Ich werde in die Steuerbordwache eingeteilt, die Backbordwache übernimmt die Nachmittagswache. Das heisst, ich werde von acht bis Mitternacht und von vier bis acht Uhr an Deck sein. Also sofort ab in die Koje, Schlaf tanken, denn in der Nacht werde ich mich nur zwischen Mitternacht und vier Uhr hinlegen können. Trotz des hellen Nachmittags schlafe ich tief. Dass über mir die Backbordwache das Deck vom Dreck, den wir vom Land aufs Schiff geschleppt haben, freischruppt, bekomme ich nicht mehr mit.

Überall Lichter – erstens von ankernden und fahrenden Schiffen und zweitens von den Windparks. Die Nordsee ist aufgeteilt wie an Land der Zonenplan einer Gemeinde: Fahrstrassen für die Schiffe, Ankerzonen für jene, die auf die Einfahrt in den Hafen warten, irgendwelche Installationen für die am Meeresgrund verlaufenden Pipelines und die leidigen Windparks. Wir rätseln, das der Lichtschimmer am Horizont bedeutet: Eine Stadt kann dort unmöglich sein. Vermutlich handelt es sich um eine Bohrplattform. Die Lichteverschmutzung verwirrt Meeresorganismen.

Was an Land unerwünscht ist, wird einfach ins Meer hinaus gebaut. Dafür spricht zwar, dass es hier mehr Wind als an Land zu ernten gibt. Doch jeder Mast einer Windkraftanlage muss mit Opfer-Anoden – auch als «Zinkmäuse» bekannt – vor der Korrosion geschützt werden. Während den zwanzig Jahren, die eine dieser «Windmühlen» in Betrieb ist, werden zehn Tonnen Zink, Aluminium und Schwermetalle im Wasser gelöst und landen schliesslich im Sediment am Meeresgrund. Was das mit den dortigen Lebewesen macht, beginnt man nun zu erforschen. Zuerst irgendwelche Stoffe in die Umwelt bringen und hinterher schauen, ob das schädlich ist – dieses Motto industrieller Zivilisation gilt auch für die Produktion von «nachhaltigem» Strom. Und diese Masten stehen zu tausenden in der Nordsee…

Beidrehen

Die Reise ist kurz. Damit wir nicht zu früh in Blankenberge ankommen, drehen wir bei: Einige Segel werden auf vorwärts, andere auf bremsen getrimmt. Das Schiff steht praktisch still und driftet langsam seitwärts. Der erste Versuch, so die Zeit bis zu Hafeneinfahrt zu überbrücken, wird von einem Funkspruch unterbrochen: Wir befänden uns in einer Zone, wo die Lotsen an Bord der grossen Schiffe klettern. Ein motorloses Segelschiff ist in diesem regen Verkehr ein Fremdkörper. Also segeln wir weiter nach Westen, wo wir Platz finden, uns in der Nachtkälte treiben zu lassen.

Arbeit im Hafen

Die Strand-Skyline in Blankenberge ist dicht zugebaut mit Apartmentblocks. Was bis Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts ein kleines Fischerdorf war, wird heute vom Tourismus dominiert. Das Fischerfest, für das traditionelle Schiffe wie die Tres Hombres als Kulisse eingeladen werden, bringt viel angeblich maritime Folklore, militärische Marschmusik und Essenstände in und rund um den Yachthafen. Das «Office» von Fairtransport breitet auf der Ladeluke Kaffee, Schokolade, Rum, Vanille, Honig und sonst allerlei gesegelte Waren aus, das Schiff benötigt die Einnahmen aus dem Eigenhandel der Reederei.

Gerade mal noch ein knappes Dutzend Fischerboote liegen im Hafen. Um auf die Toilette im Haus des Yachtklubs zu gehen, müssen wir das Handy mit einem QR-Code dabei haben. Was früher ein simples Telefon war, entwickelt sich mehr und mehr zum permanenten Überwachungsgerät: Wer wann wo etwas bezahlt, wer welche öffentlichen Verkehrsmittel benutzt und wer wie oft den Darm entleert – alles landet im grossen Datenmeer.

Die Tres Hombres als Gegenmodell: Hier übernehmen wir zwei neue Segel. Für die Blöcke (Umlenkrollen) an der Fock müssen neue Seilringe geflochten werden, alle Leinen in der richtigen Reihenfolge zu montieren braucht Zeit. An der Rah wird die Fock mit rund dreissig Bändseln am Jackstag (einer Metallstange oben auf der Rah) befestigt. Sieben bis acht mal wird die dünne Hanfschnur durch die Öse im Segel und um das Jackstag gewickelt, dann setzt man mit mehreren Törns rund um das Ganze fest. Eigentlich einfach. Doch acht Meter über Deck auf der Rah zu arbeiten ermüdet rasch: Einerseits durch die Konzentration («Ist meine Sicherheitsgurt noch eingehakt?»), andererseits durch Dauerspannung der Muskeln in ungewohnten Stellungen. Handarbeit statt Streicheln des Handy-Bildschirms. Reales, anfassbares Leben.

Das alte, zu ersetzende Segel präsentiert sich als «Patchwork».

Kontrast auch zu den vorbeifahrenden Yachten: regelmässig der Mann am Ruder, die Frau holt die Fender rein. Auf der Tres Hombres dagegen übernehmen Frauen entscheidende Funktionen in der Crew, bis hin zur Kapitänin. Die Technik an Bord ist traditionell, mag antiquiert erscheinen. Geschlechterrollen und Sozialverhalten hin gegen weisen in die Zukunft.

Heute am frühen Abend, wenn die Tide und der Wind günstig stehen, werden wir auslaufen. Ziel ist die Westküste Frankreichs, wo wir Wein laden werden.

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