Friedlich vor Anker bei Marie Galante

Die Fässer sind mit Sand geradezu paniert. Zuerst unschlüssig, welches wir nehmen sollen, drehen Remi und ich eins und lassen es den Strand hinunter rollen. Laut spritzend trifft es auf die erste Welle. Die Wucht der rund 270 Kilos treibt das Fass weiter ins Wasser. Wir hinterher, stossen es vom Ufer weg und versuchen, gleichzeitig die Flossen anzuziehen. Remi verliert eine, zufällig taucht sie im aufgewühlten Wasser neben mir auf. Ich wate zurück, setze mich in die leichte Brandung, schlüpfe in die Flossen und gehe rückwärts zum Fass. Gemeinsam ziehen wir es weiter hinaus. Langsam wird das Wasser tiefer. Ich versuche zu schwimmen, doch noch ist es nicht tief genug.
Schliesslich erreichen wir offenes Wasser. Ich halte stark nach rechts, Remi meint, wir sollten wie Sunny und Rosa mit ihrem Fass direkter zur «Tres Hombres» schwimmen. Doch gestern bin ich da draussen von einer Strömung nach links abgetrieben worden, als ich zum Schiff schwimmen wollte. Dies will ich vorsorglich mit einem Kurs nach rechts kompensieren. Ruhig gehen die Flossen auf und ab, morgen wird sich wohl Muskelkater melden. Remis Eindruck, wir kämen nicht vorwärts, lässt sich durch Peilung widerlegen. So ein Fass schwimmend zu ziehen und zu stossen ist erstaunlich einfach.
Remis Zweifel an meinem Kurs bestätigen sich, als wir der ankernden «Tres Hombres» näher kommen. Die Strömung ist heute nicht so stark, wir müssen korrigieren. Der Umweg kostet zusätzliche Kraft. (Zu weit rechts zahlt sich ja auch politisch nicht aus…) Vor allem werden wir von der nachfolgenden Gruppe fast eingeholt. Dabei haben wir extra darauf geachtet, Abstand zu halten, damit nicht wie in Martinique alle Fässer praktisch gleichzeitig beim Schiff ankommen. Es braucht Zeit, den Rum mit Taljen an Deck zu ziehen und die Fässer anschliessend mit Ratschen und Hauruck im Laderaum an den richtigen Platz zu befördern. So lange müssen die SchwimmerInnen draussen die Fässer an Ort halten, was fast anstrengender ist, als sie durch Wasser zu ziehen. Dies blüht uns nicht. Wir können die Haken sn der Talje im Fass einhängen, ich schmeisse die Flossen an Deck und klettere über die Leiter ins Schiff.

Die «Tres Hombres» vor Anker
Maritimer Lastesel: Vor Marie Galante bringht unser Dingi die leeren Fässer an Land.

Ein nur halbes Paradies

Lassen der Dunst oder Regenschauer nicht den Horizont verschwinden, grüsst im Nordwesten Guadeloupe, im Südwesten sind die Berge von Dominica zu erahnen, dazwischen die Konturen kleinerer Inseln. Den Bug gegen den Strand mit seinem dichten Dschungel bis direkt an den schmalen Sandstreifen gerichtet, liegen wir vor Marie Galante vor Anker. Dies dürfte der schönste Ort unserer Reise sein, wenn auch dieser erste Eindruck sich trübt: Der nahe Ort St. Louis ist teilweise eine Geisterstadt, halbe Strassenzüge gesäumt von verlassenen, zerfallenden Häusern. Und auf dem Rückweg teils im Wasser watend, teils auf einem Dschungelpfad mit atemberaubend verschlungenen Bäumen, stösst man unvermittelt auf einen Autofriedhof mit bis zu zehn Metern hoch aufgetürmten Wracks und einem umgekippten Schild, dass verbietet, hier Müll abzulagern. Haben wirklich die nur rund 14 000 EinwohnerInnen dieser Insel so viele Autos zu Schrott gefahren? Oder wird hier an der von Abwanderung betroffenen Peripherie der Dreck der französischen Karibik versteckt?

Eine «andere Welt»

Wir laden hier ein paar Fässer Rum. In Martinique war das Rum-Schwimmen ein halbes Volksfest, auch Frauen und grössere Kinder sind mitgeschwommen, darunter eine Spezialgruppe der französischen Armee, die anschliessend das Schiff enterte (das taten alle anderen auch) und ihre Piratenflagge hisste (das taten alle anderen nicht). Bei mir hinterliess dies gemischte Gefühle: Es ist ja nett, wenn Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen begrüssen, was die «Tres Hombres» an weitgehend emissionsfreiem Transport vorlebt. Einige finden wohl einfach nur das Schiff «romantisch». Doch in der Neujahrsbotschaft von Fairtransport war die Rede davon, dass mit dem Schiff ein Ort geschaffen wurde, in dem Konservative auf Revolutionäre treffen, Seeleute auf Künstler, allerlei Leute auf Handwerker… Und die Militärs, die in Badehosen nicht gerade martialisch aussehen, hatten vorher angefragt, ob sie kommen dürfen. Aber auf welcher Seite werden Spezialeinheiten stehen, wenn die Klimakatastrophe das Meer steigen lässt und die so ausgelöste Massenmigration abgewehrt werden soll? Oder wenn an die Wurzeln des Übels gehende Aktionen von Ökogruppen jene Gesetze verletzen, die zum Schutz des Lebenswelt-zerstörenden Molochs erlassen wurden?

In Martinique war das Schwimmen der Rumfässer ein nasses Volksfest.

Auf Anraten eines Mitseglers habe ich aus der Schiffsbibliothek das Buch «Drinking Molotov Cocktails With Gandhi» geholt. Es gehört einem der drei Kapitäne, welche das Schiff und Fairtransport gegründet haben. Der Autor Mark Boyle zitiert unter anderem Rosa Luxemburg, die den Reformismus dafür verdammte, dass er einige Fehler des grundsätzlich falschen Systems korrigiert und es so stabiler macht gegen Versuche, es zu überwinden. «Systemchange» fordert die jugendliche Klimabewegung. Richtig. «Eine andere Welt ist möglich», lautet die Botschaft aus der ökosozialen Ecke. Nicht nur «möglich», sondern «dringend notwendig». In diesem Spannungsfeld segelt die «Tres Hombres»: Sie zeigt zwar bezüglich Transport einen Teil dieser notwendigen «anderen Welt», fordert den Verzicht auf überflüssige Transporte. Aber um des ökonomischen Überlebens willen finanziert sie sich zu einem erheblich Teil durch den Handel mit dem Luxusgut Rum. Dafür muss sie sich reformistisch geben.

Kein Konsumstress

Hier vor Marie Galante haben wir Ruhe vor den überlauten Partybooten vor Barbados, deren übersteuerte Bumbumbum-Bässe die alkoholisierten Gäste akustisch betäuben und nebenbei uns Frachtsegler um den Schlaf bringen. Auch die Jet-Skies, diese übermotorisierten schwimmenden «Motorräder», werden uns erst in Boca Chica auf der Dominikanischen Republik wieder belästigen.

Dieser Baobab (ein afrikanischer Baum) auf Barbados ist rund 1000 Jahre alt. Er kam hier vor den kolonialen Eroberern an. Vermutlich ist seine Frucht selbstständig über den Atlantik gekommen, getrieben von Wind und Strömungen.

Auf dem Weg hierher segelten wir der Westküste Martiniques entlang. Deren landschaftliche Schönheit bezahlten wir während der ersten Nachtwache mit der Flaute im Windschatten der Insel. Unzählige Male brassten wir die Rahsegel auf den anderen Bug, wenn ein Hauch aus einer neuen Richtung die Illusion aufkommenden Windes weckte, nur um uns gleich wieder zu enttäuschen. Viel Anstrengung für nichts. Das Schiff dreht Pirouetten im Zeitlupen-Tempo. Ganz anders dann meine zweite Wache: Während der Hundewache (das ist jene nach Mitternacht) hatte die andere Hälfte der Crew den Windschatten überwunden. Wir segelten mit prallen Segeln in der Atlantikdünung. Silbern zauberte der Vollmond eine Lichtstrasse auf die See im Lee. Unsere alte Dame erschauerte vor Freude, wenn sie krängend mit Schaum vor dem Bug die nächste Welle durchschnitt. Für solch magische Momente nimmt man gerne den Verzicht auf Überflüssiges in Kauf.

Die Tropen verarmen

Bei Sonnenaufgang kreuzte dann von der Insel Dominica her ein kleines, offenes Fischerboot unseren Kurs. In den Wellen schien es sich fast senkrecht aufzubäumen, bevor es im nächsten Tal verschwand. Die lokalen Fischer müssen ihr Leben dem Aussenbordmotor ihrer Nussschalen anvertrauen. Dabei ist absehbar, dass sie immer weniger fangen. Die Ozeane nehmen über 90 Prozent der von der Menschheit an Land ausgestossenen Wärme auf. So puffern sie buchstäblich die Klimaerwärmung. Dies um den Preis, dass das Wasser immer wärmer und damit auch Sauerstoff-ärmer wird. Mobile Lebewesen wie die Fische fliehen vor der Wärme, weg von den Tropen in Richtung der Pole. Wissenschaftler berechneten die Geschwindigkeit dieser Migration seit den 1950ern mit 51,5 Kilometer pro zehn Jahre. Seit ich vor knapp sieben Jahrzehnten geboren wurde, haben sich also auf der Nordhalbkugel viele maritime Lebewesen rund 350 Kilometer nach Norden verschoben. Die Biodiversität der hiesigen Tropen verarmt.
Überhaupt ist der Einfluss unserer Wirtschafts- und Lebensweise an Land auf die Weltmeere massiv: Nur 13 Prozent der Ozeane gelten noch als maritime Wildnis, als weitgehend unberührt. Zwei Drittel der Meeres-Lebensräume erleiden durch menschliche Einflüsse deutlich verschlechterte Bedingungen. Zur Erwärmung und Sauerstoffarmut kommt der Versauerung hinzu, da das Wasser CO2 aufnimmt und Kohlensäure entsteht. Wissenschaftler bezeichnen dies als «tödliches Trio» – alles für uns versteckte Folgen des Klimawandels. Da muss man fast froh sein über die Plastikverschmutzung: Diese hat den Vorteil, dass sie den zerstörerischen Einfluss auf die Ozeane der Lebensweise an Land sichtbar macht. Dabei müssten wir erkennen: Was wir Menschen den Meeren antun, tun wir uns selber an: Beispielsweise entsteht unser Wetter weitgehend da draussen hinter dem vom Strand aus sichtbaren Horizont.
Diese Zahlen entnehme ich der «World Ocean Review», die jedermann und jedefrau gratis bestellen kann und in der Wissenschaftler verschiedener Ozeaninstitute ihre Erkenntnisse allgemeinverständlich darstellen: Sehr zu empfehlen unter anderem für alle Klimabewegten und alle PolitikerInnen. 1) Diese Daten werfen aber auch die Frage auf, wie weit es noch legitim ist, vor Anker vor einer Insel, die ihren heutigen Namen von Christoph Kolumbus erhielt, zwischenzeitlich in eine Art Ferienstimmung zu geraten. Doch hätte ich ohne die «Tres Hombres» die Liebe zum Ozean, jenen 99 Prozent des biologisch besiedelbaren Raums des Planeten, entdeckt? Und brächte es einen Fortschritt, angesichts der Grösse der Probleme Trübsal zu blasen? Oder ist gerade die Freude an einem Bordleben auf materiell etwas niedrigerem Niveau jenes Vitamin für die «andere Welt», die so dringend notwendig ist? Unser Fest mit handgemachter Musik ist eben die Alternative zur strom- und benzin-fressenden Bumbumbum- und Alk-Betäubung der Partyboote. «Pura Vida» steht auf zwei Balken auf dem Vorschiff, «reines Leben». Da wollen wir hin.

1) Kritik: Die World Ocean Review argumentiert viel mit «ökologischen Dienstleistungen». Das ist hilfreich, wenn es darum geht, zu zeigen, welche Funktion ein Lebewesen hat, wenn also beispielsweise Phytoplankton durch Photosynthese Sauerstoff produziert, der dann anderen Lebewesen zur Verfügung steht. Aber die Tendenz, diese «Dienstleistungen» in Geld umzurechnen, ist grundfalsch: Die Lebensnetze sind viel komplexer als dass man das sie mit einem Preisschild versehen könnte. Und heisst ein Preisschild, dass man Teile des Systems kaufen könnte und zerstören dürfte, wenn man die nötigen Milliarden hätte?