Grenzen, Schrauben und Investoren

Den Helder, Sonntag, 6. November. Regen, Energie auf der Stufe «abgeschlafft». Auch die anderen, die auf der «Stella Maris» wohnen, hängen müde auf den Bänken. Soeben war ich beim Schiff. Die Rigger arbeiten auch am Sonntag, geschützt durch eine behelfsmässig aufgespannte Plane. Die Zeit drängt: Solange nicht alles stimmt im Rigg, kann ein motorloses Schiff nicht in See stechen. Das eine oder andere Detail am Innenausbau kann man auch auf See oder in einem Hafen noch erledigen (mit entsprechend Improvisations-fördernd beschränkter Auswahl an «richtigen» Schrauben, siehe untren). Und in einer Woche, wenn dann der Wind stimmt (derzeit ist scharfer Südwest angesagt, nicht gerade ideal, um durch den Ärmelkanal zu kommen) sollte es gemäss Optimisten ja schliesslich losgehen.
Die «Tres Hombres» kam erst am Montag aus der Werft zurück: Innen immer noch ausgehöhlt, ein Rumpf, dem wir wichtige Organe erst noch wieder einsetzen müssen. Am Dienstag kamen die Wassertanks rein, am Donnerstag wurde der Hauptmast gesetzt, der jeweils weg muss, damit man das Schiff aus dem Wasser nehmen kann. Gemäss Segelplan würden wir morgen Montag ablegen. Davon sind wir noch weit entfernt. Optimisten meinen, es könnte eine Woche später losgehen.
Trotzdem werden morgen die Trainees eintreffen. Ob ihr Schlafplatz im Vorschiff fertig wird? Wenn nicht, müssen wir wohl auf den Schiffen, auf welche die freiwilligen Helfer verteilt sind, enger zusammenrücken. Ich bin beides: Mithelfer beim Überholen des Schiffs, und ab dem Moment, an dem wir in See stechen, Trainee.
Diesmal kostete es mich Mühe, anzukommen. Die Umstellung von einer Umgebung, in der alles irgendwie in Reichweite ist, auf ein Milieu, in dem Improvisation und Motivation allerlei Mangellagen kompensieren müssen, braucht Zeit. Beispiel Schrauben: Davon hat es alles in allem wohl mehr als einen Zentner an Bord in den verschiedenen Fächern, und nicht zuletzt im Werkzeugcontainer. Aber genau die Schraube, die man für einen bestimmten Zweck braucht, gibt es entweder gerade nicht, oder man sucht lange: Rostfrei muss sie sein, wenn man in Eiche schraubt, die Gerbsäure im Holz frisst sonst das Metall auf. Nur galvanisiert sollte sie sein, wenn man in Stahl arbeitet, da die Kombination unterschiedlich edler Metalle in Kombination mit Seewasser zu galvanischen Strömen führt, die den weniger edlen Stahl angreifen. Hinzu kommen die verschiedenen Systeme – traditionell, Kreuzschlitz, Torx, Sechskant-Kopf – und weiter die Frage der richtigen Länge und Dicke. Hat man dann die richtigen Schrauben gefunden, geht die Suche nach den passenden Bits los, jene kleinen Einsätze für den Akkuschrauber, ohne die gar nichts geht. Der Witz dabei: Offenbar ging es bereits unseren Vorgängern so. Entsprechend finden sich beispielsweise an einem Scharnier, das ich demontieren will, gleich mehrere Schraubentypen, wofür ich dann wieder die richtigen Bits suche. Profis haben deshalb den eigenen Werkzeugkasten dabei, den sie wie den Augapfel hüten. Mein persönliches Werkzeug beschränkt sich dagegen auf Messer, Marlspiek, Segelnadeln und Segelmacherhandschuh, mit dem man die Nadeln zum Beispiel durch Tauwerk stösst.

Im Kleinen erfahren, was im Grossen nötig wird

So ist es also, wenn man sich mit den begrenzt vorhandenen Mitteln behelfen muss. Und das werden wir alle müssen, wenn wir den Planeten endlich als Schiff (meinetwegen auch als Raum-Schiff) begreifen wollen, dessen Ressourcen halt begrenzt sind.
Sonntag ist auch der Tag, die unter der Woche eingetroffenen e-Mails zu checken. Darunter ein Hinweis auf einen Artikel für Investoren: «Wie dekarbonisiert man das Transportwesen – und warum sollten Anleger sich dafür interessieren?» Vieles bestätigt meine Ergebnisse, die ich im Buch verarbeitet habe: «Weltweit ist das Transportwesen der grösste Verursacher von CO2-Emissionen.» Diese zu vermeiden sei schwierig: «Die aktuellen Pläne gehen nicht weit genug. (…) Die Reduzierung von Kohlendioxidemissionen im Transportwesen ist entscheidend, wenn die Netto-Null-Ziele erreicht werden sollen.» Doch durch das Wachstum könnten «Bis 2050 (…) die durch das Transportwesen verursachten Treibhausgase um 60 Prozent zunehmen.» Dabei kommt dem Seetransport eine besondere Rolle zu: «Bis 2050 dürfte die Seeschifffahrt knapp 10 Prozent aller CO2-Emissionen ausmachen.» Ich habe dazu zwar an anderer Stelle auch schon die Zahl 15 Prozent gelesen. Wichtig ist hier jedoch: Auch Finanzleute, die ganz anders denken als ich, gehen davon aus, dass die Rolle der Schifffahrtsindustrie künftig noch zerstörerischer wird.
Und was schlagen die Investitionsberater vor? Teilweise favorisieren sie Ansätze wie beispielsweise durch «Transportbedarfsmanagement» gesündere und umweltgerechtere Transport zu fördern: «Ziel ist es, die Menschen dazu zu bringen, auf Fahrzeuge zur Alleinbenutzung zu verzichten und stattdessen auf effizientere Beförderungsmethoden umzusteigen, wie beispielsweise den Öffentlichen Verkehr, Fahrgemeinschaften, Mitfahrgelegenheit, sowie auf nicht motorisierte Fahrzeuge wie Fahrräder.» Vor dem Hintergrund, dass Personenwagen im Schnitt nur 3 Prozent der Zeit genutzt werden und somit 97 Prozent des Materials, das für deren Produktion auf Schiffen umweltschädigend transportiert wurde, nutzlos auf Parkplätzen herumsteht, ist das ein durchaus sinnvoller Gedanke.
Doch dann folgen zweifelhafte Vorschläge. Zum einen die Elektrifizierung des Verkehrs. Woher die dafür notwendigen Rohstoffe im erforderlich gigantischen Umfang und vor allem der Ökostrom kommen sollen, bleibt unerwähnt. Zum anderen der Umstieg auf «kohlenstoffarme Kraftstoffe» auf der Basis von Wasserstoff. «Der Schlüssel zu preiswertem Wasserstoff liegt in der Gewinnung aus Braunkohle, die in Australien reichlich vorhanden ist.» Aufgrund ihrer schlechten Qualität werde diese nicht in grossem Umfang in die ganze Welt verschifft. Und die Kosten seien tief.
Ja ja, je billiger desto besser. Die Bewahrung unserer Lebensgrundlagen soll möglichst nichts kosten. Dass Braunkohle insgesamt im Boden bleiben müsste, wenn uns das Klima nicht hoffnungslos über den Kopf wachsen soll, das wissen aber auch die Finanzberater aus London:
«Abscheidungs- und Speichertechnologien reduzieren während der Herstellung von Wasserstoff die CO2-Emissionen.» Damit wischen sie elegant die Treibhausgase unter den Teppich noch nicht erprobter Technik. Die Lösung, weniger zu transportieren und die Form des Wirtschaftens den Grenzen des Planeten anzupassen, passt halt nicht in die Logik des Geldes.
Stattdessen habe ich in der deutschen «Tageszeitung» das Projekt gefunden, wegen des steigenden Meeresspiegels die Nordsee vom Atlantik abzuriegeln. Der Bau eines Deichs quer durch den Ärmelkanal und eines zweiten zwischen England und Norwegen – Kostenpunkt 500 Billionen Euro – komme angesichts des wegen des Klimawandels steigenden Meeresspiegels billiger als wenn die Anrainerstaaten den Küstenschutz national organisieren. Ziel ist also, den Planeten dem Kapitalismus, der Bequemlichkeit und der Gier anzupassen. Richtig wäre es genau umgekehrt: Die Wirtschaftsform den Grenzen des Planeten zu unterwerfen.
Solange aber die «Profis» sich der Illusion verschreiben, irgend eine Technologie werde das schlimmste dann schon irgendwie abwenden, und dafür Milliarden verschleudern und sich dabei noch «grün» vorkommen, fühle ich mich als Amateur auf einer «Tres Hombres» am richtigen Ort – auch wenn die Suche nach den richtigen Schrauben nicht nur kostbare Zeit fordert, sondern zeitweilig auch nervt.

An die Grenze gehen, aber nicht darüber hinaus

Den Helder, Mittwoch, 11. November. Schon wieder Freitag. Die Zeit verfliegt. Aus der Baustelle wird zusehends ein Schiff. Frederico, der Koch, füllt den Vorratsraum und die Galley (Küche) mit den Lebensmitteln. Kleine Teams schlagen Segel an. In der Metallwerkstatt schmieden Rosa und Jake die Stagreiter, jene Haken, an denen dann die dreieckigen Stagsegel an den Drahtseilen hängen. In der Holzwerkstatt entstehen Planken für die neue Innenverkleidung einiger Kabinen. Im Laderaum wird noch geschweisst. Die frisch gestrichenen Lukendeckel sind bereits montiert. Arthur, der erste Offizier, beschäftigt sich mit der Elektronik der Navigationsgeräte. Da müssen neue Antennen und Kabel ins Rigg. Jeroen hat die Ankerwinsch auf Vordermann gebracht. Und gestern ist Anne-Flor, die Kapitänin eingetroffen und schleppt nun kistenweise Bücher mit Tabellen und Ordner zu allerlei Formalitäten und Zollkram in ihre Kabine, die eben erst fertig wurde. Zwischendurch fegt ein Windstoss eine Kanne vom Tisch, an dem wir vor- und nachmittags Kaffeepause machen, ein Tupperware-Deckel schlittert über das Hafenpflaster. Es gibt trockene Tage, aber zwischen stetem Sprühregen und peitschenden Regenböen spielen die Wettergötter auf der ganzen Nässe-Klaviatur.

Ich staune, wie automatisch ich mich auf der Treppe in den Navigationsraum drehe, um rückwärts hinunterzusteigen. Oder wie die Knie unter der ersten Plattform am Fockmast wie von selbst den richtigen Halt finden. Das Schiff ist dem Körper vertraut – Heimat.
Das hat aber auch Grenzen: Nach zwei Bändseln, mit denen wir das Marssegel an der Rah anschlagen, hätte ich das dritte weiter aussen binden sollen. Da passten dann aber das Fusspferd (das Stahlkabel, auf dem man beim Arbeiten in der Höhe steht) und mein Körperschwerpunkt nicht mehr richtig zusammen. Ich meldete, dass ich mich unsicher fühle und stieg ab. Von dieser Rah bin ich ja vor drei Jahren einmal gefallen, und «Helden», die über ihr Limit hinaus gehen, sind an Bord nicht gefragt. Aber auf einer Rah tiefer und auf dem Bugspriet habe ich gestern mit zunehmendem Selbstvertrauen, am Schluss sogar mit Genuss, gearbeitet.
An die Grenze gehen, aber nicht darüber hinaus. Dies ist mit dem Segeln tief verbunden. So werden auf Traditionsschiffen wie der «Tres Hombres» auch tragende Teile mit «Marlin», einer geteerten Hanfschnur, befestigt oder gesichert. Beispielsweise bestehen die Wantenspanner nicht aus drehbaren Gewindehülsen, sondern aus Juffern, einer Art Talje («Flaschenzug») aus dickem Tauwerk. Dieses wird nicht mit Knoten festgesetzt, sondern mit Kneifbändseln (engl. «Seizings»): Man umwickelt mit einer besonderen Technik die zwei nebeneinander liegenden Taue so, dass diese Umwicklung die gleiche Funktion hat wie die Presshülsen, mit denen man an Land Drahtseile verbindet. Marlin ist zwar stark, doch man kann ihn auch zerreissen, wenn man zu heftig zieht. Zurrt man jedoch die einzelnen Windungen zu schwach, dann rutscht das Kneifbändsel und die Masten werden nicht mehr korrekt gestützt. Gesucht ist die richtige Balance zwischen der Festigkeit der Schnur und der nötigen Spannung, damit das Bändsel auch wirklich kneift.
Mittlerweile ist die Abreise auf den kommenden Mittwoch verschoben. Das Schiff wird wohl früher fertig und wir können einziehen. Der Koch kann sich im Hafen schon mal an die Enge der Galley gewöhnen, bevor er dann auf der Nordsee in dem Schüttelbecher von einer Seite auf die andere geschleudert wird: Das letzte Mal konnte unsere Köchin Soraia eine beträchtliche Sammlung an blauen Flecken vorweisen. Und für uns Trainees gibt es eine Einführung in die Grundlagen des Rahsegelns. In der Nordsee kann es zwischendurch hart – je nach Perspektive auch interessant – werden. Dann ist es nötig, dass alle vorher zumindest mal gehört haben, was passiert, wenn man an der einen oder anderen Leine zieht.